„Jubiläen sind Entdeckungsreisen in die Geschichte, die den Blick in die Zukunft öffnen. Der 130. Geburtstag des Sankt Vinzenzstifts in Aulhausen ist dies in besonderer Weise, denn in Aulhausen begegnen wir mit Matthäus Müller einer herausragenden Persönlichkeit der deutschen Caritas-Geschichte. Müller, der „Don Bosco des Bistums Limburg“, wie er häufig genannt wurde, war nicht nur Gründer des Vinzenzstifts, er war auch erster Caritas-Direktor des ältesten Diözesancaritasverbandes Deutschlands in Limburg, er war Mitgründer des Deutschen Caritasverbandes 1897 in Köln und er gründete mindestens zwei Caritas-Fachverbände - für die Einrichtungen der Eingliederungshilfe und für „katholische caritative Erziehungstätigkeit.“
Mit diesen Worten erinnerte Eva Welskop-Deffaa, Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes e.V., in ihrem Festvortrag zum 130jährigen Bestehen des Sankt Vincenstiftes an dessen Gründer Matthäus Müller. „Besonders berührt bis heute der Reformwille, mit dem Müller von Aulhausen aus das Anstaltswesen seiner Zeit erneuerte. Brutale Züchtigungen, die vor 130 Jahren in der Heimerziehung noch verbreitet waren, lehnte er ab und setzte Standards durch, die das Wohl der Kinder in den Mittelpunkt stellten.“
Matthäus Müller war Leiter des damaligen Diözesanknabenheims Marienhausen in Aulhausen und wurde vom Bistum beauftragt, ein Heim für geistig behinderte Kinder zu gründen. Hintergrund war eine Erhebung aus dem Jahr 1888, die ergeben hatte, dass in der Diözese Limburg ungefähr „120 katholische Idioten-Kinder“ – so die Bezeichnung damals - lebten.
Nach dem erfolglosen Versuch, diese „Diözesananstalt für Idioten“ in Winkel zu errichten - „es erhoben einige liberale Bürger aus Winkel, denen der Anblick der armen Idioten nicht passte, Einspruch dagegen…“ (so die Chronik des Sankt Vincenzstifts) – fiel die Wahl auf Aulhausen: In unmittelbarer Nachbarschaft zum „Knabenheim“ erwarb Müller ein Haus in Laufweite. Es lag „isoliert und in unmittelbarer Nähe des Waldes, so dass die Kinder bequem im Freien verkehren können, ohne jemand lästig zu fallen.“
Am 3. Juni 1893 zogen die ersten drei Schwestern der Armen Dienstmägde Jesu Christi in das Haus ein. Am gleichen Tag wurde auch das erste Kind aufgenommen, schon am 11. Juni „mit 6 Kindern der Unterricht begonnen“. Da Ende 1895 die Zahl schon auf 93 gestiegen war, musste an einen weiteren Neubau gedacht werden. Angesichts der regen Bautätigkeit gab Bischof Klein Direktor Matthäus Müller den dringenden Rat, „die Anstalt nur so weit zu vergrößern, als es für die Bedürfnisse der Diözese nötig sei (…) so fürchtet er, dass die Gebäude vielleicht später einmal leer stehen könnten“.
Bis 1902 entwickelte sich die Anstalt „außerordentlich“; 163 „Zöglinge“ werden betreut, 25 Personen sind dort tätig. Zum 1. August 1902 wurde die bisher gemeinsame Leitung der beiden Heime (Marienhausen und St. Vincenzstift) getrennt und zum ersten „Rektor“, der jetzt selbständigen Einrichtung, der frühere Assistent von Direktor Müller, Pfarrer Aloys Faxel, ernannt. Faxel bemüht sich vorrangig um den inneren Ausbau der Anstalt in inhaltlicher, methodischer, personeller und organisatorischer Hinsicht und erwirkte 1905 die Umbenennung von „Idioten-Anstalt-Marienhausen“ zu „St. Vincenzstift, Bildungs- und Pflege-Anstalt für schwachbefähigte Kinder“.
Im Ersten Weltkrieg brannte das Hauptgebäude von Marienhausen bis auf die Mauern vollständig aus. Die Zöglinge von Marienhausen erhielten im St. Vincenzstift Räume, Kleidung und Lebensmittel.
1923 konnte der Gründer des St. Vincenzstiftes, Prälat Matthäus Müller, sein goldenes Priesterjubiläum feiern. Seine ehemaligen Schüler ließen auf eine Gedenktafel in Marienhausen schreiben: „Wir nannten ihn Vater". Matthäus Müller starb 1925.
Heute – 100 Jahre später – hat sich die Sankt Vincenzstift gGmbH von der Stiftung über das Sonderpädagogische Zentrum zum Verbund Sankt Vincenzstift weiterentwickelt. „Mit dem Verbundkonzept tragen wir dem Zeitalter der Inklusion Rechnung“, erläutert Dr. Caspar Söling, der Sprecher der Geschäftsführung. Das besondere an dem Verbundskonzept ist, dass es zahlreiche unterschiedliche Wohnangebote gibt (im Vincenzpark oder in der Stadt, ambulant oder in besonderen Wohnformen, allein oder in einer Gruppe), zwischen denen die Betroffenen wählen können. Die Vincenzschule wurde um eine inklusiv arbeitende Grundschule erweitert, die Werkstätten bieten inzwischen auch berufsintegrierte Arbeitsplätze an, die Freizeit- und Sportangebote öffnen sich hin zur Gesellschaft. Inklusion und Teilhabemöglichkeiten stehen im Fokus, um den Menschen mit Beeinträchtigung ein an ihren Stärken ausgerichtetes Leben zu ermöglichen.
Organisatorisch bildet das Sankt Vincenzstift inzwischen zusammen mit der Antoniushaus gGmbH in Hochheim und dem Verbund Alfred-Delp-Haus in Oberursel die JG Rhein-Main, eine Tochter der Josefs-Gesellschaft (JG) in Köln. In der JG Rhein-Main arbeiten in der Betreuung und Begleitung von Menschen mit Beeinträchtigung rund 1.400 Mitarbeiter:innen (vor allem Sozialpädagog:innen, Heilerziehungspfleger:innen, Heilpädagog:innen, Erzieher:innen, Psycholog:innen, Pflegefachkräfte, Lehrer:innen oder Teilhabeassistent:innen).
JG Rhein Main macht Angebote im gesamten Rheingau, im Main-Taunus-Kreis, im Hochtaunuskreis, in Offenbach und demnächst in Frankfurt mit dem „Haus der Horizonte“ (derzeit im Bau). Die Erfolgsidee von Aulhausen hat sich inzwischen über das ganze Rhein-Main-Gebiet ausgebreitet.
Fotos unten: Der Nordflügel 2020, das Zentralgebäude um das Jahr 1950 - beide aus der gleichen Perspektive